BVerfG stärkt Rechte von Betroffenen bei Beleidigungen im Internet

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Der Fall sorgte 2019 für Aufsehen: die Politikerin Renate Künast wurde auf Facebook und Twitter in etlichen Kommentaren als „Sondermüll“, „Schlampe“ und Schlimmeres bezeichnet. Sie rief das Landgericht Berlin an, um mit dessen Hilfe Auskunft über die Identität der Nutzer zu erhalten. In einem viel kritisierten Beschluss (Az. 27 AR 17/19) befand das Gericht aber, die Beschimpfungen seien als Meinungsäußerung zulässig und stellten keine strafbare Beleidigungen dar. Künast müsse als Politikerin in stärkerem Maße Kritik hinnehmen, zudem würden die Äußerungen alle einen Sachbezug aufweisen, also dem gesellschaftlichen Diskurs dienen. In der Folge durften Facebook und Twitter keine Auskunft erteilen, Künast blieb zunächst schutzlos. 

Auf ihre sofortige Beschwerde gestattete das Landgericht zunächst hinsichtlich eines einzigen Tweets (von 22 beanstandeten Beiträgen) die Auskunftserteilung, da er eine unwahre Tatsachenbehauptung enthielte, die geeignet sei, Künast verächtlich zu machen. Nach einer weiteren Beschwerde hielten die Richter im Januar 2020 dann 6 der 22 Beiträge für strafbare Beleidigungen. 

Künast blieb hartnäckig und rief das Kammergericht Berlin an. Dieses entschied im März 2020, dass 6 weitere Beiträge nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt seien, so dass nun für 12 der 22 Beiträge eine Auskunftserteilung gestattet wurde (Az. 10 W 13/20). Äußerungen wie „Pädophilen-Trulla“, „Gehirn Amputiert“ oder „Die ist Geisteskrank“ hielt der Senat jedoch für zulässig. Es handele sich zwar um erheblich ehrenrührige Bezeichnungen und Herabsetzungen der Antragstellerin. Unter Berücksichtigung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben sei nämlich festzustellen, dass die Schwelle zum Straftatbestand der Beleidigung gemäß § 185 StGB nicht überschritten wurde.

Gegen diesen Beschluss wendete Künast sich mit einer Verfassungsbeschwerde. In seinem nun veröffentlichten Beschluss (Az. 1 BvR 1073/20) äußert das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) deutliche Kritik an der Entscheidung des Kammergerichts und gibt zugleich wichtige Hinweise für ähnliche Fälle. Das Kammergericht habe eine grundsätzlich unrichtige Auffassung von der Bedeutung und Tragweite der Grundrechte von Renate Künast. Die Annahme einer strafbaren Beleidigung erfordere eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die den betroffenen Rechtsgütern und Interessen, hier also der Meinungsfreiheit und der persönlichen Ehre, drohen. 

Eine Beleidigung in Form der Schmähung liege stets vor, wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. In diesen Fällen ist laut dem BVerfG eine Abwägung der Grundrechte entbehrlich.

In allen anderen Fällen bedürfe es einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte. Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit sei umso höher, je mehr die Äußerung darauf ziele, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen gehe. 
 

Das BVerfG betont, dass hinsichtlich Politikerinnen und Politikern die Grenzen zulässiger Kritik zwar weiter zu ziehen seien als bei Privatpersonen. Aber auch solche „Machtkritik“ erlaube nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung. Der wirksame Schutz der Persönlichkeitsrechte von Politikerinnen und Politikern liege vielmehr im öffentlichen Interesse, da sonst eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft nicht erwartet werden könne.

Damit erteilt das BVerfG der Argumentation von Land- und Kammergericht Berlin eine klare Absage. Diese waren davon ausgegangen, dass gegenüber Amtsträgern quasi jede Äußerung, die keine Schmähkritik darstellt, eine zulässige Meinungsäußerung ist. Sogar hinsichtlich der Bezeichnung als „Stück Scheisse“ hatte das Landgericht wegen eines nachfolgenden Satzes eine „Auseinandersetzung in der Sache“ erkannt und eine Beleidigung verneint. 

Das BVerfG stellt hierzu fest, das Kammergericht sei unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts davon ausgegangen, eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB liege nur dann vor, wenn die streitgegenständliche Äußerung "lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung" zu verstehen sei. Eine Beleidigung liege nicht nur dann vor, wenn der diffamierende Gehalt einer Äußerung so erheblich sei, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheine.

Die erforderliche Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechten habe das Kammergericht schlicht unterlassen. Schon dies führe zu einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts von Renate Künast und zur Aufhebung der Entscheidung des Kammergerichts, da ihr andernfalls von vornherein die Möglichkeit genommen werde, zivilrechtliche Ansprüche gegen die Nutzer durchsetzen zu können.

Das BVerfG hat die Sache zur erneuten Verhandlung an das Kammergericht zurückverwiesen. Dieses wird nun für jede einzelne Äußerung unter Berücksichtigung der Vorgaben des BVerfG prüfen müssen, ob der Meinungsfreiheit oder dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht mehr Gewicht zukommt. 

Angesichts der teilweise drastischen Äußerungen ist damit zu rechnen, dass auch weitere der 6 verbleibenden Beiträge als strafbare Beleidigung gewertet werden und somit die Nutzerdaten herauszugeben sind. Das Verfahren zeigt allerdings deutlich, wie schwer das deutsche Rechtssystem es Betroffenen von Beleidigungen und anderen Straftaten im Internet macht, sich zu wehren. Renate Künast streitet seit fast 3 Jahren dafür, die Identität der Nutzer zu erfahren, und hat dies mit finanzieller Unterstützung durch die HateAid gGmbH geschafft. Es ist gut vorstellbar, dass andere Betroffene bereits nach der ersten Gerichtsentscheidung aufgegeben hätten. So bleibt abzuwarten, ob die Fachgerichte und Staatsanwaltschaften bei „Hassrede“ im Internet künftig dem Persönlichkeitsrecht der Betroffenen mehr Gewicht geben werden.

Autor: Rechtsanwalt Björn Frommer